„Land der 1.000 Derbys“ und „Herz des deutschen Fußballs“: Keine andere Region in Deutschland wird so mit dem Fußball verbunden wie das Revier. Fußball ist hier ein tief verwurzeltes soziales und kulturelles Phänomen, ein Lebensgefühl, das in Tradition und Ausprägung an England, das Mutterland des Fußballs, erinnert. Ruhr und Rhein bilden so etwas wie eine Kernregion – oder, wie es Franz Beckenbauer formuliert hat: »Das Herz des Fußballs schlägt im Ruhrgebiet«.
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Ein Jahr vor dem Anpfiff der Fußball-Europameisterschaft 2024 in Deutschland zeigten das Deutsche Fußballmuseum und das Ruhr Museum gemeinsam in der spektakulären Bunkerebene der Kohlenwäsche auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein die erste fotografische Sonderausstellung zum gesamten Ruhrgebietsfußball.
Prof. Heinrich Theodor Grütter, Museumsdirektor des Ruhr Museums und Vorstandsmitglied der Stiftung Zollverein: »Unsere Ausstellung präsentierte mit faszinierenden Fotografien die Vergangenheit und Gegenwart einer der aufregendsten Fußballregionen in Deutschland.«
Manuel Neukirchner, Direktor des Deutschen Fußballmuseums: »Wissenschaft, Kultur, Technologie und Innovationen sind die großen Treiber und Perspektivgeber für eine Region, die sich – auch das wurde in unserer Fotoausstellung eindrucksvoll dokumentiert – in den vergangenen Jahrzehnten transformiert und neu definiert hat. Der Fußball als Identitätsstifter ist dabei zur verlässlichen Konstante geworden. Er ist für die Menschen da, gerade im Ballungsraum Ruhrgebiet mit seinen vielfältigen Formen des kulturellen Austauschs, mit seinen rund fünf Millionen Menschen aus 170 Nationen.«
Die Ausstellung war die erste fotografische Sonderausstellung zur Geschichte des Ruhrgebietsfußballs. Mehr als 450 klassische, aber auch noch nie gezeigte Fußballmotive kamen aus dem großen Fotoarchiv des Ruhr Museums sowie von bekannten Fotografinnen und Fotografen wie Andreas Gursky und Roland Wirtz, von renommierten Fotoagenturen und aus den Archiven der Städte und Vereine. Die zwei Epochen Mythos und Moderne wurden dabei jeweils in elf Themen präsentiert und gegenübergestellt: Lebensgefühl, Auf dem Platz, Revierderbys, Triumphe und Tragödien, Legenden und Idole, Orte des Geschehens, Stadionbesuch, Auf Asche, Am Spielfeldrand, Solidarität und Kommerzialisierung.
Kinder auf Wiesen mit provisorischen Toren vor Industriebrachen, Fans auf dem Weg zum Stadion an der Trinkhalle – das Wechselspiel zwischen Mensch, Landschaft und regionalen Landmarken ließ ein Bild entstehen, in dem Nostalgie und gegenwärtige Begeisterung ineinander übergingen. Vor diesem Hintergrund bildeten Mythos und Modernekeine Gegensätze, sondern erzeugten mit der individuellen Perspektive des Betrachtenden ein lebendiges Kaleidoskopdes Fußballs im Ruhrgebiet. In einem Seitenkabinett zeigte das Deutsche Fußballmuseum zudem Highlight-Exponate zum Thema aus seiner Dauerausstellung, u.a. das Original-Trikot von Helmut Rahn aus dem WM-Endspiel von 1954.
»Hier wird Fußball gearbeitet.« Fußball im Ruhrgebiet ist die Geschichte eines Arbeitersports. Die ursprünglich bürgerlich-elitäre Sportart wurde an der Ruhr nach dem Ersten Weltkrieg zum Massenereignis und -erlebnis. Die Kohlenzechen stellten den Bergleuten auf ihrem Betriebsgelände Plätze zum Fußballspiel zur Verfügung und förderten die ansässigen Vereine. Der sagenhafte Aufstieg des FC Schalke 04 zu der überragenden deutschen Fußballmannschaft in den 1930er- und 1940er-Jahren löste in der Folge eine bisher nie dagewesene Fußballbegeisterung von Dortmund bis Duisburg aus. Viele Spieler arbeiteten damals noch unter Tage. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg prägten Malochervereine den Ruhrgebietsfußball. Mehr als ein Dutzend Zechen- und Arbeitervereine spielten in der höchsten Spielklasse, der Oberliga West. Meisterschaften und Pokalerfolge wurden im Revier gefeiert; Rot-Weiss Essen und Borussia Dortmund, Schwarz-Weiß Essen und der FC Schalke 04 verbuchten Sieg um Sieg. Mit der Bergbaukrise folgte ab den 1970er Jahren der sportliche Abstieg. Selbst bei den beiden Vorzeigeklubs Dortmund und Schalke herrschte Tristesse. Dennoch hält sich der Mythos des Ruhrgebietsfußballs mit seinen Triumphen und Idolen bis heute.
Live und in Farbe: Der Profi-Fußball erlebte mit den Live-Übertragungen der Spiele in den europäischen Profiligen seit den 1990er-Jahren seine wohl tiefgreifendste Veränderung. Die neue Zeit ist auch im Ruhrgebiet vor allem durch Kommerzialisierung gekennzeichnet, welche die drei Bundesligavereine FC Schalke 04, Borussia Dortmund und der VfL Bochum repräsentieren. Der Spitzenfußball erlebt ein exponentielles Wachstum. Vor allem aus lukrativen Fernsehverträgen fließt immer mehr Geld in den Sport. Mit weiteren Profivereinen wie dem MSV Duisburg, Rot-Weiss Essen, Rot-Weiß Oberhausen oder der SGS Essen, als prominenteste Vertreterin des immer beliebter werdenden Frauenfußballs, ist das Ruhrgebiet immer noch die dichteste Fußballregion in Deutschland.
Dieser Entwicklung inklusive des Ausbaus der sportlichen Infrastruktur kann der Amateurfußball kaum folgen. Aber auch die kleinen, oft legendären Vereine prägen den Fußball zwischen Emscher und Ruhr bis heute. An der Basis ist der Fußball der Volkssport Nummer Eins. Direkt vor der Haustür können Fans den Fußball auf Bolzplätzen, in kleinen Stadien und großen Arenen hautnah erleben oder die Partien der Profivereine in den Medien verfolgen.
Die beiden Hauptförderer der Ausstellung waren die RAG-Stiftung und die Stiftung Fußball & Kultur EURO 2024 gGmbH.
RAG-Stiftung
Die RAG-Stiftung mit Sitz auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein war Hauptförderer der Ausstellung. »Der Fußball im Ruhrgebiet war in seiner Entwicklung eng mit der Geschichte des Bergbaus verbunden«, erläuterte Bärbel Bergerhoff-Wodopia, Mitglied des Vorstandes der RAG-Stiftung, das Engagement. »Die Fußballkultur des Ruhrgebiets ist ein wichtiger Bestandteil des bergbaulichen Erbes der Region, weshalb uns die Unterstützung dieser besonderen Ausstellung sehr am Herzen liegt.«
Stiftung Fußball & Kultur EURO 2024 gGmbH
Die Stiftung Fußball & Kultur EURO 2024 gGmbH ist eine Tochter der DFB-Kulturstiftung mit Sitz in Frankfurt am Main und wurde auf Beschluss des Deutschen Bundestages vom Bund gefördert. Geschäftszweck ist die Koordination der Förderung von Kunst- und Kulturprojekten für das Rahmenprogramm zur UEFA EURO 2024 in Deutschland. Aufsichtsratsvorsitzende ist die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth. »Die gemeinsame Initiative des Deutschen Fußballmuseums und des Ruhr Museums im Herzen von Fußballdeutschland hat uns überzeugt«, so Roth. »Fußball ist im Ruhrgebiet nicht nur Sport. Fußball ist Leidenschaft und verbindet Menschen, egal welchen Alters und welcher Herkunft. Daher war auch diese Ausstellung Teil des bundesweiten Kulturprogramms, welches die EURO 2024 begleitet.«
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Seit über 100 Jahren fasziniert Fußball, ist er ein verlässlicher Lieferant für Nachrichten und Bilder. Schon in den frühen Tagen wurde er fotografisch und filmisch dokumentiert. Mit seiner Popularisierung werden die Spiele immer intensiver abgelichtet, auch der Hintergrund: die Tribünen, Zuschauerinnen und Zuschauer, die Logistik, An- und Abfahrten, Ehrungen, Fußballerinnen und Fußballer im Privatleben – eine riesige Auswahl von Motiven. Heute werden nicht nur alle Profispiele im Fernsehen übertragen; am Spielfeldrand sind weiterhin Fotografinnen und Fotografen postiert, die fast in Echtzeit liefern: Impressionen aus den Stadien, Bilder von Spielern, Torschüsse, Jubeltrauben, Kapriolen, Coaching-Zonen. Fußball im Ruhrgebiet bietet eine unendliche Bilderwelt.
Gezeigt werden Pressefotografien sowie Fotoprojekte von Studierenden des renommierten Fotografen Otto Steinert, in Einzelfällen auch von international bekannten Fotokünstlern wie Andreas Gursky und Roland Wirtz. Ausgangspunkt für die Bildauswahl bildet das Fotoarchiv des Ruhr Museums, das mittlerweile über vier Millionen historische Bildeinheiten umfasst. Und die Kooperation mit der regionalen Sportfoto-Agentur Firo und anderen Bild-Agenturen macht auch den Blick auf die Fußball-Gegenwart möglich. In Schwarz-Weiß und in Farbe widmen sich die beiden Museen den zwei Bereichen »Mythos« und »Moderne« des Ruhrgebietsfußballs. Als Sujet der Tagespresse wurde Fußball lange nur in Schwarz-Weiß abgebildet. Farbfotografie kam sporadisch in den 1970er Jahren in Magazinen oder Werbeanzeigen auf. In der Sportpresse setzte sich das Farbbild erst Ende der 1990er Jahre mit den neuen Druckstraßen und schließlich der digitalen Verbreitung durch und prägt seither das moderne Bild des Ruhrgebietsfußballs.
Zu erklären ist die Fußballregion Ruhrgebiet nicht zuletzt aus ihrer Geschichte. Die Region wuchs mit dem Fußball; der ehemalige Arbeitersport war die Begleiterscheinung im Höhenflug und im Absturz des Industriereviers und seiner Neuerfindung als Metropolregion. Er führte zu großen Erfolgen und Meisterschaften ebenso wie zu Niederlagen und Abstiegen bis hin zum Abrutschen traditionsreicher Vereine in die Bedeutungslosigkeit. Heute erlebt der Ruhrgebietsfußball eine gewisse Renaissance. Mit Borussia Dortmund, Schalke 04, VfL Bochum, MSV Duisburg und Rot-Weiss Essen spielen fünf Ruhrgebietsvereine in den verschiedenen Bundesligen. Und schließlich begeht der organisierte Fußball im Ruhrgebiet ein traditionsreiches Jubiläum: Der Westdeutsche Fußballverband feiert in diesem Jahr als einer der ältesten Fußballverbände überhaupt sein 125-jahriges Bestehen.
Das »Land der tausend Derbys« lebt jedoch auch stark von seinen Widersprüchen, Rivalitäten und den Herausforderungen, denen es sich in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder stellen musste. Die Industrialisierung brachte wirtschaftliche Blüte, aber auch harte Arbeit, die Zuwanderung erforderte die Entwicklung von Integrationsprozessen, der Einbruch bei Kohle und Stahl stellte das Selbstverständnis der gesamten Region in Frage. Und mittendrin stand und steht immer der Fußball. Als Projektionsfläche, als Zufluchts- und Sehnsuchtsort, als Repräsentant und Entwicklungsmotor, als wichtigste Nebensache der Welt, hauptsächlich aber als Spiel, in dem sich Mythos und Moderne widerspiegeln.
368 Seiten, mit mehr als 480 Abbildungen, Klartext Verlag, Essen 2023, 29,95 €
ISBN 978-3-8375-2597-7
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